Zum Buch:
1517 – DAS Lutherjahr, wie zahlreiche Biografien über den Reformator zeigen. Heinz Schilling, der sein vielfach gelobtes Luther-Buch bereits 2012 vorlegte, hat einen anderen Blick gewählt. Er schreibt die Weltgeschichte eines Jahres. 1517 ist für ihn ein Epochenjahr, in dem die Umbrüche der Neuzeit sich ankündigen oder bereits im Gange sind – und das nicht nur in Mittel- und Westeuropa. Schilling meint „Weltgeschichte“ ernst, auch wenn Europa im Zentrum steht. Sein Buch umfasst auch den vorderen Orient, Russland, die „neu entdeckten“ Welten in Indien, Mittel- und Südamerika. Er schreibt über Politik, Kirche, Geld, Wirtschaft, kollektive Ängste und natürlich auch über Luther und die Reformation.
Mit Erstaunen stellt man beim Lesen fest, wie viel von dem, was im frühen 16. Jahrhundert in Bewegung geriet und im Laufe des Jahrhunderts gefestigt oder vollends hinweggefegt wurde, bis heute die kulturelle und geopolitische Landschaft bestimmt. Große dynastische Reiche entstehen, die in wechselnden Koalitionen ihre Macht zu festigen suchen, zu denen auch der Kirchenstaat und das Papsttum gehören. Im Osten bildet sich unter Iwan III das Russische Reich, aus dem Nahen Osten drängen die Osmanen nach Europa. Mit den Entdeckungen in Mittel- und Südamerika und dem erweiterten Handel mit asiatischen Ländern kommt nicht nur immenser Reichtum nach Europa, die bis dahin unbekannten Tier- und Pflanzenarten entfachen auch die Phantasie und Sammelleidenschaften und erweitern den Blick.
Die Diskussionen über die Antike unter den Gelehrten weiten den Horizont, aber Wunder- und Aberglaube, Angst vor Hexen und Dämonen sowie die kollektiven Ängste vor Seuchen beherrschen trotzdem die Menschen, gleich aus welcher gesellschaftlichen Schicht. Rittertum und Renaissancefürsten bestanden nebeneinander, oft sogar in einer Person. Im Adel gab es zunehmend hochgebildete Frauen, an deren Höfen Künste und Wissenschaft gefördert, die bei Bedarf aber dennoch aus dynastischen Gründen verheiratet wurden. Schilling spricht im Zusammenhang dieser Widersprüche von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“.
Das letzte Kapitel ist dann doch Luther gewidmet, aber der ist hier nicht der monumentale Solitär, der mit seinem wuchtigen Thesenanschlag die Welt umkrempelt. Diese Welt ist bereits in einer Umwandlung, die sich in Luther bündelt und auf Jahrzehnte hinaus die Welt erschüttern wird.
1517 ist ein fesselndes, informatives und kluges Buch, flüssig geschrieben und, bis auf Quellenhinweise, fußnotenfrei. Nach seiner Lektüre weiß der Leser entschieden mehr und ist zu diesem Wissen auf höchst unterhaltsame Weise gekommen – was will man mehr?
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt