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Blinder Fleck

Autor
Cole, Teju

Blinder Fleck

Untertitel
Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling
Beschreibung

Hier geht es um die Empfehlung eines besonderen Buches von einem Autor, der ganz offensichtlich nicht nur, wie in seinem Roman Open City, viel zu erzählen, sondern darüber hinaus auch viel zu sagen hat, wie in seinem Blog Jeder Tag gehört dem Dieb oder in seinem 2016 erschienenen Essayband Vertraute Dinge, Fremde Dinge.

Dass Teju Cole nun erneut das literarische Genre wechselt und zu einer Erzählform übergeht, die aus einem Dialog zwischen Fotos und Textnotaten besteht, ist – wie im Vorwort zu lesen – einer vorübergehenden Erblindung 2011 geschuldet, die seinen Blick in und auf die Welt nachhaltig beeinflusste und veränderte. Cole erlitt eine Netzhauteinblutung und war für einige Zeit in seinem Sehen so reduziert, dass auch das Laufen und die Verortung im Raum eine Herausforderung für ihn waren.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Berlin, 2018
Seiten
352
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-446-25850-1
Preis
38,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Er ist Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf und lehrt als Distinguished Writer in Residence am Bard College. Er ist der Fotografie-Kritiker des New York Times Magazine und Autor der dort erscheinenden Kolumne “On Photography“. Seine fotografische Arbeit wird international ausgestellt, seine Bücher “Open City” und “ Jeder Tag gehört dem Dieb” gelten als herausragende Werke der neueren amerikanischen Literatur. 2013 wurde er mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm die Essaysammlung “ Vertraute Dinge, fremde Dinge”. Teju Cole lebt in Brooklyn, New York.

Zum Buch:

Hier geht es um die Empfehlung eines besonderen Buches von einem Autor, der ganz offensichtlich nicht nur, wie in seinem Roman Open City, viel zu erzählen, sondern darüber hinaus auch viel zu sagen hat, wie in seinem Blog Jeder Tag gehört dem Dieb oder in seinem 2016 erschienenen Essayband Vertraute Dinge, Fremde Dinge.

Dass Teju Cole nun erneut das literarische Genre wechselt und zu einer Erzählform übergeht, die aus einem Dialog zwischen Fotos und Textnotaten besteht, ist – wie im Vorwort zu lesen – einer vorübergehenden Erblindung 2011 geschuldet, die seinen Blick in und auf die Welt nachhaltig beeinflusste und veränderte. Cole erlitt eine Netzhauteinblutung und war für einige Zeit in seinem Sehen so reduziert, dass auch das Laufen und die Verortung im Raum eine Herausforderung für ihn waren.

Diesen „blinden Fleck“ nimmt er mit auf seine Reisen rund um die Welt. Und daher stammen die Fotografien in diesem Buch, das nicht das ist, was man herkömmlich unter einem Bildband versteht. Unter den Überschriften der Texte finden sich bekannte Orte wie Brooklyn, Lugano und Nürnberg, aber auch Orten wie Pitasch und Ubud, von denen man nie oder selten hört, die man jedoch auf der Karte im Anhang geografisch zuordnen kann, wenn man möchte. Cole bleibt in dieser Zusammenstellung sehr unterschiedlicher Fotos und Texte bei der Frage, die sein literarisches Werk durchzieht: Wie sehen wir die Welt? Wie ist unser Blick auf das „Andere“ gefärbt, beschränkt, gelenkt? Was sind wir in der Lage zu sehen – wobei „sehen“ in vielen Zusammenhängen ein Synonym für „erkennen“ ist.

Das Vorwort der klugen Siri Hustvedt bereitet ungemein gut auf die folgenden 320 Seiten vor. Sie stellt unseren Alltagsblick in Frage und schult unsere Aufmerksamkeit für leicht zu übersehende Details. Hustvedt stellt fest, dass unser Sehen natürlich „kulturell befangen“, durch Rassismus und Sexismus verzerrt ist. Nicht nur die ganz persönliche Erfahrungswelt oder die Situation bestimmen, was wir wahrnehmen und was wir übersehen, sondern auch die kulturimmanenten Kategorien, die wir absolut setzen – was sie natürlich aber nicht sind.

Auf einem Foto, dessen Text mit dem Ort „Vals“ überschrieben ist, sieht man eine prall gefüllte Plastiktüte mit vielen leeren, aneinander gepressten Flaschen, drum herum Gitterstäbe, wie von einem Wagen zum Abtransport von Leergut. „Etwas durch etwas Lichtdurchlässiges Gesehenes. Etwas, was Menschenhände berührt haben. Etwas, einst für etwas Verwendetes, wird jetzt für anderes verwendet. Etwas Verdecktes, aber nicht Verstecktes. (…)“ Eine andere Fotografie aus Ubud lenkt den Blick auf einen bunt dekorierten Teller, der hinter der Frontscheibe eines schmutzigen Autos aufgestellt wurde. Im Hintergrund ein weiteres Auto? „Tag für Tag werden aus Blüten, Reis und geflochtenen Halmen Canang sari fabriziert: den Ahnen zu Ehren, um die Schwelle zu beschützen, um eine Reise zu begünstigen. (…)“

In Blinder Fleck lässt sich sein Autor nicht auf eine seiner Berufungen festlegen. Neben dem Schriftsteller, Fotografen und Kunsthistoriker begegnen wir dem Entdecker, Politiker und Chronisten. Teju Coles Bilder geben einen Rhythmus vor, den Rhythmus eines Wanderphilosophen, eines Gedankenflaneurs, der dazu auffordert, anders und Anderes zu sehen als bisher. Wieder und wieder kann man dieses Buch in die Hand nehmen und überrascht feststellen, wie variabel, veränderbar und wenig festlegbar das ist, was wir tagtäglich zu sehen glauben.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt