Zum Buch:
Das Berlin der Weimarer Republik steht hoch im Kurs. Ausstellungen, Publikationen und vor allem die fulminante TV Serie Babylon Berlin von Tom Tykwer stehen für dieses Phänomen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren ist der US-amerikanische Autor Jason Lutes dieser Faszination erlegen. In einem Antiquariat in Kalifornien fällt ihm Bertolt Brechts Skizzenbuch in die Hände, und er beschließt, eine Graphic Novel über das Berlin von 1928 bis 1933 zu schreiben. Er ist jung, er ist enthusiastisch – und er hat „nicht mal genug Geld, um in den nächsten US-Staat zu reisen“. Es dauert zwei Jahre, bis er zum ersten Mal nach Berlin kommt. Und es dauert 20 Jahre, bis er die gesamte, hervorragend recherchierte Arbeit abschließt. Berlin erscheint in den USA in 24 Heften à 24 Seiten, in Deutschland in drei Bänden – und jetzt endlich in einer schweren und großen und wunderbaren Gesamtausgabe (mit erhellendem Zusatzmaterial). Als Jason Lutes mit Berlin begann, gab es weder einen Weimarer-Republik-Boom noch ein Interesse für Graphic Novels. Einiges ist also passiert.
Lutes beschreibt die Jahre vor der Machtergreifung aus der Perspektive einiger weniger, sehr unterschiedlicher Protagonisten. Marthe Müller, Künstlerin aus Köln, verliebt sich zunächst in den Journalisten Severing von der Weltbühne, später in Anne, eine Frau, die sich kleidet wie ein Mann. Ein anderer Hauptstrang erzählt das Schicksal der Arbeiterfamilie Braun, der Vater ist, seine Frau Gudrun trennt sich von ihm und wird „eine Rote“. Vor allem aber geht es um die Tochter Silvia, einen ungestümen, wütenden Teenager, bereit für den kommunistischen Klassenkampf. Aber noch zahlreiche andere kleinere und weiter gespannte Episoden erzählt Lutes. Für die deutsche Übersetzung hat er mit dem Berliner Übersetzer Lutz Göllner zusammengearbeitet, der für den Dialekt verantwortlich war, der in den Milieus gesprochen wird.
Zusammengehalten werden all diese Fäden durch die Stadt Berlin in ihrer historischen Situation. Der Autor verbindet Ereignisse wie die blutige Niederschlagung der Maidemonstration 1929 und historische Persönlichkeiten wie Ossietzky, Ringelnatz oder Göbbels mit fiktivem Personal.
Dies gelingt vor allem auch auf der visuellen Ebene. Lutes Reigen verwebt die Episoden mit originellen und einleuchtenden Mitteln, z.B. Bahngleise oder eine Radioübertragung von Brahms Requiem, das sich in eine Jazzimprovisation verwandelt. Dabei bleiben vor allem die Seitengestaltung ruhig, die Bilder schwarz-weiß, der Ton immer ein wenig distanziert. Und so ahnt man, ohne dass dies betont würde, was uns an dieser Zeit so fasziniert. Es ist nicht nur der Sound der Goldenen Zwanziger, sondern auch der Blick auf eine zerrissene Gesellschaft, in der Gegensätze sich zunehmend polarisieren.
Jakob Hoffmann, Frankfurt am Main