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Rotes Licht

Autor
Kantor, Maxim

Rotes Licht

Untertitel
Roman. Übersetzt von Juri Elperin, Sebastian Gutnik, Olga Korneev und Claudia Korneev
Beschreibung

Der Roman beginnt mit dem Historiker Solomon Richter, der im Krankenhaus im Sterben liegt. Auf dem Krankenhausflur steht ein Fernseher. Kranke, Pfleger und Putzpersonal scharen sich darum und diskutieren, begleitet von obszönen Ausfällen, über den Krieg in der Ukraine, der angeblich kein Krieg ist. Sie sind sich einig, dass Russland keine Rücksicht walten lassen solle und Putin richtig handle. Richter hört das widerwillig mit an und verknüpft das Gehörte mit dem historischen Kontext des 20. Jahrhunderts. Er sieht mit Sorge den wachsenden Nationalismus und Faschismus im postsowjetischen Russland. Währenddessen hofft er, noch lange genug Zeit zum Leben zu haben, um einige wichtige Episoden seiner Geschichte und der Geschichte des Landes noch ein letztes Mal zu durchdenken. Und es ist, als würde das Folgende im Roman diese Aufgabe für ihn übernehmen, auch wenn sich dabei Erzähler einmischen, die ganz und gar nicht in seinem Sinne erzählen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Zsolnay Verlag, 2018
Seiten
704
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-552-05853-8
Preis
29,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Maxim Kantor wurde 1957 in Moskau geboren und studierte dort am Polygraphischen Institut. 1983 gründete er eine unabhängige Künstlergruppe, die später unter dem Namen “Krasny Dom” mit Ein-Tages-Ausstellungen im Untergrund bekannt wurde. Seit seiner Ausstellung auf der Biennale in Venedig 1997 gehört er zu den international renommiertesten russischen Künstlern. Er lebt und arbeitet auf der Ile de Ré, in Berlin und Oxford.

Zum Buch:

Rotes Licht ist Maxim Kantors zweiter Roman und der erste, der in deutscher Übersetzung vorliegt. In Russland konnte Rotes Licht nicht vollständig erscheinen. Der Autor ist Künstler und Schriftsteller und hat seinen Roman mit Grafiken begleitet, die ganz eigenständig von der bedrohlichen, grotesken Atmosphäre erzählen, die auch im Roman vorherrscht. Zu hoffen ist, dass es einmal eine illustrierte Ausgabe geben wird.

Das Geschehen beginnt in der russischen Gegenwart vor etwa vier Jahren, zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Ukraine. Ein illustrer Kreis der russischen politischen Opposition und der kulturellen Elite trifft sich in der französischen Botschaft. Es wird schnell deutlich, dass ihr nach außen getragener Liberalismus in Wirklichkeit nur ihre Kooperation mit Oligarchen und der politischen Führung tarnt. Über Geschichte, so heißt es hier, diskutieren sie nur, um herauszufinden, mit wem sie Geschäfte machen können. Aus der Beschreibung der Abendgesellschaft und ihren politischen Diskussionen entwickelt sich plötzlich ein Kriminalplot; unter den versammelten Gästen befindet sich nämlich auch der Ermittler Pjotr Skuratow, der einen Mord aufklären soll.

Die Namen der in den ersten Kapiteln handelnden Figuren tauchen immer wieder auf, auch wenn sich die Perspektive nun auf die letzten hundert Jahre der russischen und sowjetischen Geschichte richtet. Die Geschichten dreier Generationen und damit zugleich die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts werden erzählt, unter anderem die der Deschkows. Jakow Deschkow kämpft in der zu Anfang beschriebenen Gegenwart für die prorussischen Separatisten in der Ukraine, nun schwenkt der Blick zurück auf die Geschichte seiner Vorfahren. Ausführlich wird die Geschichte seines Vaters Sergej Deschkow erzählt, der im zweiten Weltkrieg für die Rote Armee kämpft und verzweifelt versucht, seine Frau Dascha und seinen Sohn Jakow aus dem Lager zu retten. Sergej Deschkow wiederum ist mit Andrej Skuratow befreundet, Vorfahr des Ermittlers, der unter den Gästen des französischen Botschafters nach einem Mörder fahndet.

Der Ermittler Pjotr Skuratow lebt bis in die erzählte Gegenwart hinein in Sergej Deschkows Generalswohnung – zusammen mit drei alten Damen, die er Großmütter nennt. Mit Skuratow sprechen die Greisinnen gerne über die Vergangenheit und ihre Familiengeschichten, vermischen dabei aber ihre sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten, weil sie sich nach jahrelangem Zusammenwohnen unentwirrbar miteinander verwoben haben. Sie kennen die Geschichte eines jeden Vorfahren der Gäste in der französischen Botschaft, bringen aber alle Geschichten durcheinander und streiten sich immer wieder darüber. Diese mythischen Greisinnen treten im Roman noch in anderen Rollen auf: als drei Kräuterfrauen, die in einer Hütte im Wald leben und Sergej Deschkow auf seiner Suche nach seiner Frau helfen.

Eigentlich aber beginnt der Roman mit dem Historiker Solomon Richter, der im Krankenhaus im Sterben liegt. Auf dem Krankenhausflur steht ein Fernseher. Kranke, Pfleger und Putzpersonal scharen sich darum und diskutieren, begleitet von obszönen Ausfällen, über den Krieg in der Ukraine, der angeblich kein Krieg ist. Sie sind sich einig, dass Russland keine Rücksicht walten lassen solle und Putin richtig handle. Richter hört das widerwillig mit an und verknüpft das Gehörte mit dem historischen Kontext des 20. Jahrhunderts. Er sieht mit Sorge den wachsenden Nationalismus und Faschismus im postsowjetischen Russland. Währenddessen hofft er, noch lange genug Zeit zum Leben zu haben, um einige wichtige Episoden seiner Geschichte und der Geschichte des Landes noch ein letztes Mal zu durchdenken. Und es ist, als würde das Folgende im Roman diese Aufgabe für ihn übernehmen, auch wenn sich dabei Erzähler einmischen, die ganz und gar nicht in seinem Sinne erzählen.

So zum Beispiel die Erzählung des verdächtig langlebigen Briten Ernst Hanfstaengl, der Richters Antagonisten darstellt und einst Adolf Hitler beriet. Er übernimmt die Rolle eines sehr bemühten Mephistopheles, und seine zynischen Beschreibungen sind zuweilen schwer zu ertragen. Mit Helene aus der Familie von Moltke unterhält er viele Jahre lang ein Verhältnis. Diese trennt sich jedoch von ihm zugunsten der Widerstandsbewegung unter Stauffenberg und von Moltke, der sie selbst angehört. Nun, viele Jahre nach dem Krieg, arbeitet Hanfstaengl als Berater in England, lässt es sich aber nicht nehmen, den sterbenden Solomon Richter ein letztes Mal zu besuchen. Noch in den letzten Lebensminuten Richters versucht Hanfstaengl, ihn zu verführen und auf seine Seite zu ziehen. Diese Diskussion ist meisterhaft und ungemein aufschlussreich, geht es hier doch um ideologische Fragen, die aktueller nicht sein könnten.

Zuletzt aber behält doch Richter das letzte Wort. Es ist ein Roman über ideologische Positionen, darüber, wie sie die Welt verändern, und wie schwer es ist, in der unübersichtlichen jeweiligen Gegenwart sagen zu können, was wahr, was richtig und was falsch ist. Humor ist in Kantors Roman bitterer Galgenhumor. Die Figuren sind zum Teil grotesk verzerrt, wie in einer seiner Grafiken, mit einzelnen Eigenschaften und Merkmalen, die unnatürlich vergrößert scheinen. Dass der Roman aber nicht von der Verzweiflung angesichts des Grausigem und Bösen erzählt, liegt in der Figur Solomon Richters begründet. Durch seine moralische Integrität und unbestechliche Menschlichkeit wird er zum Hoffnungsschimmer für den Leser, der beim Hinabsteigen in das im Roman beschriebene, andauernde russische 20. Jahrhunderts sonst alle Hoffnung fahren lassen müsste.

Wie die drei Greisinnen die Geschichten der Protagonisten und sogar ihre eigenen Lebensgeschichten ständig durcheinander bringen, so sind auch die einzelnen Erzählfäden im Roman schwer auseinanderzuhalten. Der „rote Faden, auf den die Geschehnisse aufgefädelt sind“, der „genetische Code des Schicksals“, wie es im Roman heißt, ist aber auch in Kantors Roman wirksam, hier veranschaulicht durch die Kontinuität der Generationen. Wer wissen will, was das für ein Faden ist, der lese Kantors Roman.

Alena Heinritz, Graz