Zum Buch:
Mit der Figur des Henry Drax, jenes abgebrühten, verrohten und hinterhältigen Harpuniers, der in Nordwasser die zweite Hauptrolle spielt, hat der britische Autor Ian McGuire wohl eine der abscheulichsten Romanfiguren hervorgebracht, die man sich vorstellen kann. Es bedurfte daher eines Gegengewichts, und da kommt die zweite Hauptrolle ins Spiel: Patrick Sumner. Sumner ist ein ehemaliger Militärarzt, dessen Vergangenheit wenn nicht verdächtig, so doch zumindest ungeklärt ist und der ein dunkles Geheimnis aus seiner Zeit in Indien mit sich herumschleppt. Doch zumindest weiß Sumner sehr wohl zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, eine Charaktereigenschaft, die Drax gänzlich vermissen lässt.
Der Harpunier und der Arzt treffen an Bord der Volunteer aufeinander, eines Walfangschiffes, das sich, obgleich die Saison bereits viel zu weit fortgeschritten ist, auf eine sechsmonatige Reise in die Arktis aufmacht. Und während die Volunteer in schwerer See durch die Nacht pflügt, gibt Sumner vor, in seiner Kajüte Altgriechisch zu lernen, mixt sich jedoch eine Opiumtinktur und kehrt in Gedanken immer wieder an den Ort seiner Schmach in Indien zurück. Zur gleichen Zeit begeht Drax in einem versteckten Winkel des Schiffes ein abscheuliches Verbrechen, dem der Arzt bald schon auf die Spur kommen wird. Er hätte sich jedoch keinen schlimmeren Feind als den Harpunier wünschen können. Was er zudem nicht ahnt: Die Volunteer ist keineswegs allein wegen des Waltrans und der Robbenfelle in die grünen Gewässer der Arktis aufgebrochen.
Ian McGuire hat mit Nordwasser einen Roman geschrieben, der gerade durch seine überaus drastischen Schilderungen überzeugt. Jedermanns Sache ist das nicht. Die philosophisch anmutende Herangehensweise eines Melville wird man hier vergeblich suchen. Finden wird man dafür umso mehr die brutale Wirklichkeit des Zusammenlebens auf einem stinkenden Walfänger des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ebenso aber auch die atemberaubende Schönheit einer vergänglichen Szenerie aus Wasser und Eis. Nordwasser ist ein fesselndes Buch und liest sich entsprechend schnell, was zum Teil auch den schlagfertigen Dialogen zu verdanken ist. Es ist ein Buch, das mit nichts zurückhält und auch nicht vor den Einblicken in die Abgründe der menschlichen Psyche zurückschreckt.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln