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Wieso ausgerechnet Birken? Diese Frage mag sich stellen, wer Olga Grjasnowas Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt in die Hand nimmt. Laut dem Lexikon der Nutzhölzer – ja, das gibt es tatsächlich – ist die Rinde der Birke „milchweiß und löst sich in dünnen Querbändern ab“. Zurück bleiben dunkelfarbene Einschnitte, die Assoziationen an Verwundungen oder Narben wecken. Dieses Erscheinungsbild macht den Baum zur naturwüchsigen Ikone dessen, was Grjasnowas Roman auf subtile wie intensive Weise verhandelt. Doch der Reihe nach.
Der Roman setzt ein an einem Sommermorgen in Frankfurt gegen Ende der Nullerjahre. Es ist ein Anfang unter Protest, ein Erzählen gegen einen inneren Widerstand: „Ich wollte nicht, dass dieser Tag begann“. Zur Sprache bringt diesen ersten Satz Maria Kogan, aus deren Perspektive die Handlung geschildert wird. Sie ist eine junge Dolmetsch-Studentin aus einer jüdischen Familie, die Mitte der 90er das kriegsverheerte und politisch instabile Aserbaidschan in Richtung Deutschland verlassen hat. Ihr Unwille hat einen guten Grund. Denn was sie in vier Teilen zu erzählen sich anschickt, ist schmerzhaft.
An diesem Tag bricht sich ihr Freund Elias beim Fußballspielen den Oberschenkel. In der Folge laboriert er an einer Wunde, die den Dreh- und Angelpunkt des ersten Teils bildet. Für Maria, „die seine Wunde nicht ansehen konnte“, öffnet sie ein Tor in die Vergangenheit. Es ist der Geruch, der sie „an das sowjetische Parfüm Warszawianka erinnerte“ und „Brechreiz verursachte“. Woher Marias Idiosynkrasie tatsächlich rührt, wird der Leser peu à peu erfahren. Das Zurückliegende holt sie in Gestalt von Rückblenden ein.
Als Elias seiner Wunde erliegt, bricht für Maria eine Welt zusammen. Wie sie ihre lähmende Trauer abzuschütteln und Distanz gegenüber ihrer Vergangenheit zu gewinnen versucht, davon erzählen die drei restlichen Teile. Eine wichtige Rolle spielen dabei neben ihrer Mutter, die in Sowjet-Nostalgie schwelgt, ihr bester Freund Cem und ihr Ex-Freund Sami, von dem sie sich nie ganz gelöst hat. Das gelingt ihr zumindest in Bezug auf Deutschland. Es zieht Maria nach Israel und verschlägt sie am Ende auf palästinensisches Gebiet. Der Roman schildert dabei eindrücklich die Demütigungen und Ressentiments, mit denen diejenigen, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als sogenannte ‚Migranten’ klassifiziert werden, im Alltag zu kämpfen haben. Das klingt nach schwerem Stoff, wird aber mit einer verblüffenden Leichtigkeit vermittelt, der ein kräftiger Schuss bitterer Ironie beigegeben ist.
Bar jeglicher Komik ist indes ein traumatisches Erlebnis aus Marias Kindheitstagen in Aserbaidschan, das mit „einer jungen Frau im hellblauen Unterkleid“ zu tun. Man sollte in diesem Zusammenhang Marias Haupttätigkeit, die im Übersetzen besteht, beim Wort nehmen. Der griechische Begriff ‚Trauma’ bedeutet nämlich ‚Wunde’ – und dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Davon legt dessen Figurenensemble Zeugnis ab. Da ist Sibil, ein kurdisches Mädchen, mit dem Maria während der Schulzeit eine Affäre hatte: „Ihr ganzer Körper war vernarbt“. Oder Ismael, der zu Elias „langen Narbe am Oberschenkel“ gewissermaßen das Komplementärstück aufweist: „Auf Ismaels Unterarm war eine lange Narbe“.
Es ist aber nicht die Masse der individuellen Schicksale, die dem Roman Gewicht verleiht. Dadurch droht er stellenweise eher Schlagseite zu bekommen. Nein, den Roman zeichnet aus, dass er eine Poetik der Wunde entwirft, die eine transindividuelle Dimension eröffnet. Er tut dies, indem er das Trauma respektive die Wunde zum einen – wie im Falle des „hellblauen Unterkleides“ – mit Kleidung und zum anderen mit Essen verquickt. „Am Abend kochte ich mir eine Fertigsuppe“, heißt es an einer Stelle. Durch die Wortwahl stellt sich ein unmittelbarer Bezug zu folgendem Satz her, der kurz darauf fällt: „Am Abend suppte Elias’ Wunde“. Maria, so könnte man metaphorisch sagen, frisst die Wunde förmlich in sich hinein. Und diese Wunde ist es wiederum, die diejenige in ihrer Seele aufreißt. Denn sie beschwört im Text die ersten Erinnerungen an ihre Vergangenheit in Aserbaidschan herauf. Deshalb der „Brechreiz“ und deshalb auch ihre Weigerung, Elias’ Wunde anzusehen.
Kleidung und Essen sind die materiellen Grundbedingungen menschlicher Existenz. Wenn nun der Roman diese “Essentials” mit der Wunde – im physischen wie psychischen Sinn – verkettet, wirft er gleich mehrere Fragen auf: Denn schreibt er der Wunde somit nicht ebenfalls einen fundamentalen Rang zu? Müsste daraus dann nicht folgen, dass die Wunde einen unvermeidbaren Teil unserer Existenz ausmacht? Oder erscheint dies vielmehr nur als Signum einer gesellschaftlichen Ordnung, die – wie Maria es nennt – „Instrumente zur Identifizierung und Klassifizierung“ von Menschen bereithält? Zumindest eines kann festgehalten werden. Es ist dem Roman um das Allgemeine im Besonderen zu tun. Oder anders ausgedrückt: Hier sieht man den Wald trotz lauter Bäumen.
Malte Kleinjung, Frankfurt