Zum Buch:
Kobi mochte mich nicht. Ich glaube, er schämte sich einfach, einen Bruder wie mich zu haben, einen, der nicht sprechen konnte, das heißt, einen Stummen oder so. Er mochte nicht, das man mich außerhalb des Hauses sah und dass die anderen erfuhren, dass ich sein Bruder war. Als Meirav so herumschrie, erwachte er und kam, noch ganz verquollen vom Schlaf, in mein Zimmer, um zu sehen, was los war.
Meirav stürzte sich aufgeregt auf ihn. ‘Er kann lesen und schreiben’, sagte sie, deutete auf mich und hüpfte von ihm zu mir und von mir zu ihm.
Er hielt sich noch nicht mal den Mund zu, der sich zu einem lauten Gähnen öffnete und aussah wie das Maul eines brüllenden Esels, er machte nur ein abschätzige Bewegung mit der Hand.
‘Was bist du so begeistert von dem Blödsinn, den dieser Zurückgebliebene macht?‘
Und da schwor ich mir, dass ich nie wieder versuchen würde, ihnen zu schreiben, und dass niemand jemals erfahren sollte, dass ich Wörter schreiben und sie innerlich sogar aussprechen konnte.
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DerZurückgebliebene, wie Kobi seinen jüngeren Bruder verächtlich nennt, ist unfähig, Wörter zu bilden. Ihn selbst stört das nicht, schließlich kann er auf andere Weise zu seiner Zufriedenheit kommunizieren. Er hält das Sprechen für eine überschätzte Fähigkeit, aber seine Eltern rennen mit ihm von Arzt zu Arzt, und manche Lehrer halten ihn gar für geistig behindert. Aber selbst seine Eltern und Geschwister ahnen nicht, dass er fließend liest und sich darüber ein Wissen aneignet, mit dem er sich medizinischen Behandlungen und anderen unangenehmen Dingen entziehen kann. Als Kobi mitten in der Pubertät dann plötzlich heftig religiös wird und seine Eltern zur koscheren Haushaltsführung zwingt, weiß nur der angeblich zurückgebliebene kleine Bruder, der ungestört in dessen Email-Ordner stöbern kann, dass der Bruder in die Fänge einer Sekte geraten ist, und beschließt, ihn zu retten. Aber dazu muss er sein Geheimnis verraten…
Die erste Stimme (für Leser ab ca. 13 Jahren) ist das schönste Jugendbuch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe, und erzählt spannend, rührend, überraschend, traurig und komisch von Familien und Geschwistern, Pubertät und anders sein, Freundschaft und Verständnis. Ich kann diesem Buch nur sehr viele jugendliche und erwachsene Leser wünschen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main