Zum Buch:
Wie fühlt es sich an, wenn man alles zurücklassen muss, die vertraute Umgebung, die Verwandten und Freunde, sogar die eigene Sprache?
Shirin muss mit elf Jahren diese Erfahrung machen, als sie Anfang der 60er Jahre mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern von Teheran nach Deutschland umzieht. Der Vater sieht nach einem Gefängnisaufenthalt –im Roman nur angedeutet – für sich und seine Familie im Iran unter dem Schah-Regime keine Perspektive mehr.
Die Familie lässt sich in Hamburg nieder; nach zwei Monaten im Hotel finden sie endlich eine Wohnung in einem Hochhaus. Shirin erzählt sehr eindrücklich, wie ihr die Menschen in der neuen Umgebung begegnen. Sie, die eigentlich sehr neugierig und aufgeschlossen in das fremde Land gekommen ist, merkt sehr schnell, dass sie meistens nicht willkommen ist. Die Leute begegnen ihr und ihren Geschwistern bestenfalls mit Neugier oder finden sie „süß“, meistens aber schlägt ihnen Ablehnung entgegen. Sie fühlt sich ständig angestarrt und möchte am liebsten unsichtbar sein. „Warum starren sie uns immer so an. So viel anders sehen wir doch gar nicht aus! Nur das wir schwarze Haare haben und etwas dunkler sind als die meisten Deutschen.“
Shirin und ihre große Schwester Sharife gehen zunächst in eine Schule, in der sie mit anderen ausländischen Kindern vor allem Deutsch lernen. Dort fühlt Shirin sich wohl und schließt Freundschaften. Als sie nach einem Jahr in die fünfte Klasse einer normalen Schule eingeschult wird, ändert sich alles. Die Kinder in ihrer neuen Klasse wollen nichts von ihr wissen, einige hänseln und ärgern sie, sie wird ausgegrenzt und fühlt sich allein. Auch zu Hause ergeht es den Kindern nicht viel besser. Auf dem Spielplatz vor der Wohnung bleiben die deutschen Kinder unter sich, wollen mit den „Fremden“ nichts zu tun haben.
Shirin will zur neuen Umgebung dazugehören und hat gleichzeitig Heimweh nach der alten Heimat. Sie träumt von Teheran, von ihrer Großmutter, mit der sie immer den Basar besuchte, und von ihrer Cousine und besten Freundin Achtar.
Zum Glück gibt es Rita, die mit ihrer Mutter neben Shirins Familie wohnt. Sie bringt dem Mädchen Rock‘n‘Roll bei und bespricht mit ihr kleine Geheimnisse, „Mädchensachen“ eben. Auch die Lehrerin versucht Shirin zu helfen, kümmert sich um das isolierte Mädchen, lädt sie auch einmal zu sich nach Hause ein.
Mit der Zeit lebt sich Shirin in der fremden Umgebung ein. In der sechsten Klasse findet sie endlich Freundinnen und lässt sich von den anderen Mädchen nicht mehr so viel gefallen. Umso fremder werden ihr ihre Eltern, die die gleichen Schwierigkeiten in der neuen Umgebung haben und viel stärker in den heimatlichen Traditionen verwurzelt sind. Der Vater kränkelt und ist oft schlecht gelaunt, die Mutter ist häufig depressiv und überlässt den großen Mädchen die Aufsicht über die kleinen Geschwister. Auch die gemeinsame Sprache verschwindet langsam, weil die Mädchen sich immer besser in der neuen Sprache ausdrücken können und Farsi vergessen.
Nasrin Sieges Roman ist bereits in den 80er Jahren erschienen. Die Autorin, die selbst mit neun Jahren von Teheran in die Bundesrepublik Deutschland kam, hat ihn für diese Neuausgabe noch einmal komplett überarbeitet.
Das Thema des Romans ist heute aktueller denn je. Auch wenn in der heutigen Bundesrepublik der Anblick von Migranten viel mehr zum Bild gehört als in den 60er Jahren, haben die Einwanderer doch mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen, wie Shirin sie erlebt. In kindgerechter Sprache und sehr einfühlsam erzählt Nasrin Siege von der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, den Träumen und Sehnsüchten einer Zehnjährigen in einem fremden Land und der schwierigen Suche nach dem eigenen Weg.
In Zeiten immenser Flüchtlingsströme und Verhandlungen über „Flüchtlingsquoten“ zwingt uns dieser Roman dazu, darüber nachzudenken, was es wirklich bedeutet, sein Land, seine Kultur und seine Sprache zurückzulassen, um irgendwo ganz neu anzufangen. Auch das eigene Verhalten müssen wir überprüfen. Tun wir wirklich alles, um die Menschen hier willkommen zu heißen? Sieges Roman endet mit Shirins Worten, die gleichzeitig Zerrissenheit und Hoffnung ausdrücken: „Wo gehöre ich hin? Nach Persien? Nach Deutschland? Oder in die Welt, einfach in die Welt?“
Bettina Raue, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt