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Hier sind Löwen

Autor
Poladjan, Katerina

Hier sind Löwen

Untertitel
Roman
Beschreibung

„Hic sunt leones“ – „Hier sind Löwen“ steht manchmal auf den weißen Flecken alter Landkarten. Die Buchrestauratorin Helen in Poladjans Roman Hier sind Löwen reist nach Armenien und denkt über diese Löwen nach. Die Reise erschließt ihr einige weiße Flecken – nicht nur topografisch und kulturell, sondern auch professionell und persönlich, andere Leerstellen bleiben oder tun sich erst auf. Eine Familien-, Liebes- und Handwerksgeschichte, die zwangsläufig offenbleiben muss und gerade durch ihre Leerstellen ungeheuer lebendig ist.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
S. Fischer Verlag, 2019
Seiten
288
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-10-397381-5
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für »Hier sind Löwen« erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Zum Buch:

„Hic sunt leones“ – „Hier sind Löwen“ steht manchmal auf den weißen Flecken alter Landkarten. Die Buchrestauratorin Helen in Poladjans Roman Hier sind Löwen reist nach Armenien und denkt über diese Löwen nach. Die Reise erschließt ihr einige weiße Flecken – nicht nur topografisch und kulturell, sondern auch professionell und persönlich, andere Leerstellen bleiben oder tun sich erst auf. Eine Familien-, Liebes- und Handwerksgeschichte, die zwangsläufig offenbleiben muss und gerade durch ihre Leerstellen ungeheuer lebendig ist.

Helen, die Ich-Erzählerin, reist im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschprogramms aus Deutschland nach Jerewan, um dort in den Werkstätten des Zentralarchivs armenische Buchbindetechniken zu lernen. Sie bekommt die Aufgabe, ein Familienevangeliar aus dem frühen 18. Jahrhundert zu restaurieren. Während der Arbeit stößt sie in dem Buch auf Notizen und Zeichnungen. Davon ausgehend wird in einer parallelen Erzählung die Geschichte der beiden Kinder Hrant und Anahid erzählt, die 1915 vor der türkischen Verfolgung christlicher Armenier_innen haben fliehen müssen und die Familienbibel mitnehmen konnten. Auf ihrer Flucht wird ihnen das Buch zum Begleiter, der dokumentiert, was ihnen widerfährt. Hundert Jahre später rekonstruiert Helen die Geschehnisse und muss sich damit zufriedengeben, dass die Zeit aus Erlebnissen vage Erinnerungen gemacht hat. So bleibt auch im Roman letztlich unklar, wer die Geschichte von Hrant und Anahid erzählt. Damit erhält sie den universellen Charakter eines Märchens, der einen Ausgleich zur Ich-Erzählung Helens bietet. Zugleich aber bildet sie den düsteren Hintergrund voller Gewalt, vor dem Helen das Armenien der Gegenwart wahrnimmt.

Neben ihrer Arbeit als Buchbinderin hat Helen auch ihre eigene Familiengeschichte nach Armenien geführt. Ihre Mutter ist Armenierin und hat ihr eine Fotografie gegeben, die Aufschlüsse über ihre in Armenien verbliebenen Verwandten gibt. Helen interessiert sich nicht für ihre Vorfahren, aber da sie zur Zeit ihres Aufenthalts nicht recht weiß, in welche Richtung es sie in ihrem Leben weitertreibt, nutzt sie die Zeit in Armenien, um den Fragen der Mutter nachzugehen. Seit ihrer Kindheit war Helen mit den Versuchen der Mutter konfrontiert, den Völkermord an den Armeniern zu bearbeiten. Nun scheint die Mutter sie zu beauftragen, diesem oft tabuisierten, nicht aufgearbeiteten Trauma zu begegnen. Helen reist an die Schauplätze und besucht die Felder, in denen sich die Überreste der Toten finden, die nie begraben wurden. Aber die eigene Familie ist ihr fern. Erst findet sie die falschen Leute, hält sie kurzzeitig für die eigene Familie und fühlt dennoch auch danach eine Verbundenheit. Familienbande sind nicht das, was sie sucht, es ist eine andere Verbundenheit, die sie in Armenien spürt.

In Jerewan verliebt sich Helen in Levon. Zugleich ist sie unsicher, wie es mit ihrer Beziehung zu Danil in Deutschland weitergeht, die aber von Zurückhaltung und Unsicherheit geprägt ist, obwohl sie ihm sehr nah ist. So wird Helens Armenienaufenthalt auch persönlich zu einer Begegnung mit den Löwen auf den weißen Flecken ihrer eigenen Landkarte. Und zu einer Begegnung mit der Gegenwart Armeniens, denn Levon ist Soldat in der armenischen Armee und kämpft in Bergkarabach. Schließlich wird sie auch selbst zu einer Position herausgefordert, als sie Ano, eine syrische Armenierin, kennenlernt und sich mit ihr anfreundet. Ano wird als Flüchtling in Jerewan diskriminiert, nicht zuletzt von „armenischen Armeniern“ wie Levon. So entsteht aus ihrer Arbeit an der Familienbibel, ihrer Recherche nach Verwandten und ihren Freundschaften für Helen ein Armenien, das sie herausfordert. Poladjan ist es hoch anzurechnen, dass sie es mit Helens Geschichte der Leserin überlässt, ihr Allgemeines aus diesem Besonderen zu lesen. Wunderschön ist dazu, wie sich die Beschreibungen des Evangeliars in der Terminologie der Buchbinderin in die Geschichte hineinschreibt.

Alena Heinritz, Münster