Zum Buch:
Dass die Geste des Kusses, die bei einigen Kulturvölkern, wie ich finde, überaus schön als „Trinken der Seele“ bezeichnet wird, in Wahrheit auf einen pandemischen, von einer Horde kaukasischer Reiternomaden eingeführten Lippenherpes zurückgehen soll, klingt in meiner Vorstellung so wenig vorteilhaft wie zutiefst unromantisch. Dennoch haben neueste Genetik-Forschungen ergeben, dass die Annahme, das gegenseitige Berühren der Lippen sei eine rein auf Sexualkontakt basierende Handlung, grundsätzlich Unsinn ist. Tatsächlich wurden durch das Einfallen von Wüstenstämmen während der Frühen Bronzezeit nicht nur Hautläsionen oder das Idiom der indoeuropäischen Sprache eingeführt, sondern auch eine bis dato völlig unbekannte Form der Kommunikation: Der Kuss als Ausdruck von Erkennung, Rangordnung.
So hat es begonnen.
Wir Heutigen, die wir durch eine „westliche“ Gesellschaftsform geprägt sind, kennen eine enorme Vielzahl unterschiedlichster Kussarten, als da wären der insbesondere in den südlicheren Regionen bekannte Willkommens- oder Abschiedskuss auf Mund und/oder Wangen, der Brautkuss, der zart angedeutete Handkuss, der Zungenkuss, der Kuss unter dem Mistelzweig, aber auch das Küssen von Weltmeisterschalen, von Heimatböden oder sakralen Kleinode.
Doch nicht alle Welt küsst. Wenn man heutzutage von etwa 170 verschiedenen Weltkulturen ausgeht, so beläuft sich der Anteil derer, in denen das Küssen überhaupt verbreitet ist, auf weit weniger als 50 %. Bei den Inuit auf Grönland beispielsweise, den Maori aus Neuseeland oder einigen Ethnien Papua-Neuguineas ist diese Form der Intimität sogar geradezu verpönt.
Zahlreiche Größen der Philosophie und Sozialforschung haben sich bereits am Thema der Bedeutung des Kusses als Kommunikationsform abgearbeitet. Doch hat bisher niemand die These aufzustellen gewagt, dass der Kuss, wie wir ihn kennen, womöglich vom Aussterben bedroht ist.
In seiner inhaltlich wie stilistisch überzeugenden Biographie, in der er den Leser bewusst direkt anspricht und auf seine Reise mitnimmt, greift Hektor Haarkötter auf einen reichhaltigen Fundus zurück, weiß aufschlussreich und pointiert historisch verbrieftes Wissen mit kurzweiligen Ausschweifungen zu verbinden.
Mein Fazit:
Sie sollten küssen. Heute noch.
Axel Vits, Köln