Zum Buch:
„Gibt es das eine Jahr oder den einen Ort im Leben eines Menschen, der sich im Laufe des Lebens als der wichtigste erweist?“ Für Søren Ulrik Thomsen, einen der populärsten dänischen Lyriker und Essayisten, ist es ist die Store Kongensgade 23, die Wohnung, in die seine Familie aus der Provinz nach Kopenhagen umzog. Für ein Jahr wohnt der Sechzehnjährige dort zusammen mit seiner Familie und hatte zum ersten mal das „rauschhafte Gefühl, dass jetzt die Zukunft beginnt …“. Kurz danach wurde die Mutter depressiv und kam in die Psychiatrie. In den nächsten sieben Jahren wechselten sich kurze Episoden der „Gesundung“ mit erneuten Aufenthalten in unterschiedlichen Kliniken ab. Ausgehend von dieser doppelten Erfahrung denkt der Autor über sein Leben nach und fragt, wie ein Ort, an dem er nur ein Jahr gewohnt hat, sein Leben so tiefgehend prägen konnte.
Thomsens Gedanken streifen durch sein Leben; er schreibt über Jugend und Alter, über Krankheit und Tod, über Liebe und Freundschaft. Immer wieder umkreisen seine Gedanken ein Zentrum: die Jahre der Mutter in psychiatrischer Behandlung, die 35 Elektroschock-Behandlungen, mit denen sie traktiert wurde, die Berge an Psychopharmaka, die sie schlucken musste, und das Unverständnis und Desinteresse der Ärzte daran, wer sie als Mensch war und was sie zu erzählen gehabt hätte. Er prangert die Verkennung der Medizin an, Psychopharmaka für Heilmittel zu halten und nicht nur für Mittel, die störende Symptome unterdrücken. Denn gesund geworden ist die Mutter letztlich durch einen Arzt, der sie reden ließ und ihr zuhörte – SIE sah. In den weiteren zweiundvierzig Jahren ihres Lebens ist sie nie wieder psychisch erkrankt.
Es ist nicht leicht, ein Buch mit Nachdruck zu empfehlen, das so unprätentiös daherkommt und das über die Dramen im Leben – die depressive Mutter, Jahre mit Angstzuständen, das beginnende Alter mit seinen realen und befürchteten Begleiterscheinungen – keine großen Worte macht, weil sie so normal sind und doch einzigartig für den, den sie treffen. Von dem Text geht eine große Ruhe aus. Thomsen erzählt mit einer wunderbar prägnanten, mal lakonischen, mal humorvollen Sprache. Der Autor sagt von sich, der Herbst sei seine liebste Jahreszeit – was wohl daran liegt, dass er, trotz seiner Ängste und Zweifel, die ihn lebenslang begleiten, jeden Morgen voller Freude auf den kommenden Tag aufwacht. Etwas von dieser Haltung strahlt das ganze Buch aus.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.