Zum Buch:
Sprechen lernen ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die Ende der fünfziger Jahre in Englands ewig armem Norden in einer Kleinstadt am Rand von Manchester spielen. Dort ist auch Hilary Mantel aufgewachsen, und wer ihre Autobiographie Von Geist und Geistern gelesen hat, kennt das Milieu: Eine irisch-stämmige, Familie – die Mutter lebhaft und ich-bezogen, der Vater ist eher eine Randperson –, die unter ärmlichen Bedingen in einem der typischen Reihenhäuser lebt – katholische Außenseiter, von der Nachbarschaft misstrauisch beäugt und beschimpft. Eines Tages erscheint ein neuer Mann im Haus, mal als „Untermieter“, mal als „Gast“ bezeichnet: ein Fremder, der bleibt, während der Vater weiterhin im Haus wohnt, bis er eines Tages unversehens „verschwindet“, ohne dass den Kindern der „Austausch“ erklärt wird.
Die Erzählstimmen (einmal männlich, sechsmal weiblich) sind die von Erwachsenen, die Perspektive, aus der erzählt wird, ist die von Kindern. Es sind widerspenstige Wesen, von den Erwachsenen weder beschützt noch verstanden, manchmal kränkelnd, wenig hübsch, versponnen und eigensinnig. Da die Welt für sie unverständlich und voller Rätsel ist, bestehen sie auf ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie blicken skeptisch und ohne große Illusionen auf das Leben und nehmen Schwächen – ihre und die der anderen – gnadenlos wahr. Ihr Leben ist ein ständiger, häufig erfolgloser Kampf darum, die Regeln der anderen – der Erwachsenen, der Mitschüler, der Lehrer – zu verstehen und sich ihnen anzupassen. Das ist selten von Erfolg gekrönt, hält sie aber nicht davon ab, ihren Weg weiter zu gehen. Auch wenn sie dazu buchstäblich noch einmal, wie in der titelgebenden Erzählung, Sprechen lernen müssen.
In ihr kommt die Erzählerin im Alter von elf Jahren in eine neue Schule, in der ihr Akzent sie sofort als „nicht dazugehörig“ entlarvt. Da sie aber wortgewandt ist und sich nicht scheut, öffentlich zu reden, wird sie zu einer Sprachlehrerin geschickt, die ihren Schülerinnen ein korrektes Englisch anhand von Shakespeares Dramen oder zungenbrechenden Versen beizubringen sucht. Zu der entscheidenden Prüfung vor einer strengen Kommission erscheint das Mädchen in „falschen Schuhen“, und die Lehrerin drängt ihrem Schützling, statt dessen ihre Pumps anzuziehen – falsches Krokoleder und zweieinhalb Nummern zu groß … Die anschließende Szene ist das Komischste, was ich seit langem gelesen habe.
In ihrem Vorwort beschreibt die Autorin ihre Methode des Erzählens: „Ich möchte diese Geschichten nicht autobiographisch, sondern autoscopisch nennen. Aus einer entfernten, erhöhten Perspektive blickt mein schreibendes Ich auf einen auf seine bloße Hülle reduzierten Körper, der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden.“ In jeder Erzählung füllt Mantel diese Hüllen neu, und wie in einem Kaleidoskop entsteht jedes Mal aus dem gleichen Material etwas Neues. Skurriler Humor, bissige Beobachtungsgabe, verzweifelte Komik und ein völlig illusionsloser Blick auf die Kindheit bestimmen den Ton der Geschichten. Hilary Mantel ist eine großartige Schriftstellerin – von mehreren hundert Seiten dicken historischen Romanen genauso wie für ehr kurze, aber dicht geschriebene Geschichten.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.