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Jeder geht für sich allein

Autor
Wakatake, Chisako

Jeder geht für sich allein

Untertitel
Roman. Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph
Beschreibung

Chisako Wakatake erzählt mit hinreißender Zärtlichkeit von der 74 jährigen Momoko, die am Rande von Tokyo alleine lebt, sich aber keineswegs einsam fühlt: In ihr und um sie herum redet und murmelt es ununterbrochen, auch in einem Dialekt, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesprochen hat. Ganz nebenbei werden Lebensentwürfe in Frage gestellt, eine Hommage an das Alter geschrieben und das Alleinsein gepriesen. Mit Jeder geht für sich allein hat Chisako Wakatake den wichtigsten Literaturpreis Japans gewonnen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
cass verlag, 2021
Seiten
109
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-944751-25-2
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Chisako Wakatake, 1954 in der nordostjapanischen Präfektur Iwate geboren, besuchte nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, mit dem sie lange in Tokyo lebte, acht Jahre lang einen Kurs für Kreatives Schreiben, um, wie sie sagt, »auf andere Gedanken zu kommen«. Für Ora ora de hitori igu mo (»Jeder geht für sich allein«), ihr literarisches Debüt, wurde sie im Jahre 2017 als älteste Preisträgerin je mit dem Bungei-Preis und im Jahr darauf mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnet.

Zum Buch:

Chisako Wakatake erzählt mit hinreißender Zärtlichkeit von der 74 jährigen Momoko, die am Rande von Tokyo alleine lebt, sich aber keineswegs einsam fühlt: In ihr und um sie herum redet und murmelt es ununterbrochen, auch in einem Dialekt, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesprochen hat. Ganz nebenbei werden Lebensentwürfe in Frage gestellt, eine Hommage an das Alter geschrieben und das Alleinsein gepriesen. Mit Jeder geht für sich allein hat Chisako Wakatake den wichtigsten Literaturpreis Japans gewonnen.

Beim Einsetzen der Erzählung lebt Momoko am Rand von Tokyo in einer mittlerweile heruntergekommenen Neubausiedlung, die Kinder sind ausgezogen, der Mann vor 10 Jahren gestorben, die Geschäfte haben geschlossen. Wie die Siedlung verwahrlost, so verwahrlost auch ihr Haus, so verwahrlost auch sie selbst. Quer durchs Zimmer sind Leinen gespannt, darüber hängen Momokos Kleider noch im Plastiküberwurf der Reinigung, daneben getrocknete Kakifrüchte und ein halber verschnürter Lachs. Am Abend ist sie zu müde, um die Treppen ins Schlafzimmer zu gehen, also lebt und isst und schläft sie in ein und demselben Zimmer, behält ihren ausgebeulten Jersey-Anzug an, ihren „Schlaf-, Wach- und Hausanzug.“

Ein Schelm, wer Corona dabei denkt, denn hier geht es ums Älterwerden, ums Alleinsein, wobei Momoko nicht vereinsamt, da sie – wir haben es schon erwähnt – seit einiger Zeit Stimmen hört, die in ihr und mit ihr darüber debattieren, ob ihr Leben ein gelungenes Leben war, ob sie ein erfülltes Leben geführt hat.

Es ist der Ton, die Kakophonie der Stimmen im Dialekt, die hart und zugleich nachsichtig mit ihr ins Gericht gehen, mit denen Momoko ihre weibliche Identität als Enkelin, Tochter, Hausfrau und Mutter, schließlich als Witwe reflektiert.

In Rückblicken erfahren wir, wie Momoko als junges Mädchen am Vorabend ihrer Hochzeit abhaut, wie sie in Tokyo ankommt und sich nicht nur in der großen Stadt, sondern auch in der Hochsprache fremd fühlt, ums Überleben kämpft, bis sie die Stimme eines Mannes hört, der im Dialekt ihres Dorfes spricht. Er wird ihre große Liebe werden.

Sein Tod gut 40 Jahre später hat Momoko zwar aus der Bahn geworfen, lässt sie aber zugleich und endlich die Freiheit finden, die sie damals als junge Frau gesucht hat. Wieso hatte sie diese Freiheit aufgegeben? Warum konnte sie diese in der Beziehung nicht leben? Darüber sinniert sie u.a. in einem Dialekt, der im Deutschen ins Vogtländische übertragen wurde und beim Lesen anfänglich eine Herausforderung darstellt. Aber man hört sich erstaunlich schnell ein. Und wenn man sich mal darauf eingelassen hat, dann haben gerade diese Passagen etwas sehr Intimes: als würde man mit Momoko unter der Wäscheleine in ihrem Zimmer auf der Bettkante sitzen.

Man könnte Wakatakes Roman auch als leise und vielleicht altersweise Antwort auf notwendige, aber eben im Ton weitaus grellere Debatten über Identität und Klassenzugehörigkeit lesen, denn Wakatakes Roman beleuchtet sehr detailliert, was es heißt, seine Heimat und seine Familie hinter sich zu lassen: seine Sprache und die Landschaft seiner Kindheit zu verlieren. Aber es ist in ebensolchem Maße auch ein Buch über das Vereinsamen im Alter und zugleich eine Feier dieses Alleinseins. So voller Ironie und Lebensfreude vom Alter zu berichten macht Wakatakes Roman Jeder geht für sich allein zu einem meiner schönsten Leseerfahrungen 2021.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt