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Monster

Autor
Sarid, Yishai

Monster

Untertitel
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Beschreibung

Ein Roman als Reflexion über die untrennbare Verbindung zwischen den Mühen und Formen des Erinnerns an die Schoa, den Mord nicht nur an Millionen Menschen, sondern an der jüdischen Kultur Osteuropas, und der aktuellen politischen Mentalität vieler Israelis – kann das von Interesse für deutsche Leser*innen sein?
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Kein & Aber Verlag, 2019
Seiten
176
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-0369-5796-8
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Yishai Sarid wurde 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig war, studierte er in Jerusalem und Harvard und arbeitete später als Staatsanwalt. Heute ist er als Rechtsanwalt tätig, und er veröffentlicht Artikel in diversen Zeitungen.

Zum Buch:

Ein Roman als Reflexion über die untrennbare Verbindung zwischen den Mühen und Formen des Erinnerns an die Schoa, den Mord nicht nur an Millionen Menschen, sondern an der jüdischen Kultur Osteuropas, und der aktuellen politischen Mentalität vieler Israelis – kann das von Interesse für deutsche Leser*innen sein?

Der Roman hat die Form eines fiktiven Briefes an den Direktor von Yad Vashem, der offiziellen „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“. Der Erzähler bzw. Autor des Briefes ist Israeli, Historiker, der sich aufgrund seiner Karriereinteressen auf Holocaustforschung spezialisiert hat. Mangels einer Stelle im Forschungsbereich verdient er den Lebensunterhalt für sich und seine junge Familie als Tourguide für israelische Schulklassen, Soldaten und Touristen in Polen. Sie sollen die Spuren jüdischer Geschichte, aber vor allem die Stätten des Mordens kennenlernen. Die Reisen sind Teil der staatlichen israelischen Vermittlung des Erinnerns an die Schoa als Teil der Vorbereitung der Jugend auf ihre Identifikation mit dem Staat Israel. Der Briefautor realisiert erst im Lauf der Jahre, die er mit diesen jungen Israelis in Polen verbringt, dass die Botschaft, die von ihm erwartet wird, nicht das Mitleid mit den Verfolgten oder die Erinnerung an die zerstörte jüdische Welt in Europa ist. Im Abschlussgespräch mit einer Schülergruppe bringt er seine Schlussfolgerung auf den Punkt: „Liebe Lehrkräfte, ihr könnt daheim berichten, dass die Botschaft verinnerlicht wurde. Nur Kraft und Stärke. Ohne Gewissen, ohne Anstand, ohne Nachdenken. Das alles belastet bloß die Seele und behindert das Handeln. Und wir dürfen uns keine Sekunde der Schwäche erlauben, denn dann würde uns alles genommen.“

Diese Erkenntnis wird dann durch den Einsatz als Berater für eine Regierungskommission bestätigt, die zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz einen israelischen Militäreinsatz gegen ein ehemaliges Lager in Polen inszenieren wird. Der Protagonist verliert immer häufiger die Fassung, denn im Gegensatz zu dieser Aneignung und Umdeutung des Verbrechens für gegenwärtige Interessen, kommen ihm die Toten immer näher. Er glaubt, ihnen auf dem Gelände der ehemaligen Lager leibhaftig zu begegnen.

Aber nicht nur die israelischen Auftraggeber funktionalisieren die Erinnerung an die Schoa, die der Protagonist durch sein Wissen weitergeben möchte, für politische Interessen. Der Showdown der Erzählung ist die Funktionalisierung des lebenden Juden – unseres Briefschreibers – durch einen Deutschen. Der deutsche Filmregisseur, den der Protagonist auf einer Reise zu den Gedenkstätten der Vernichtungslager begleitet, macht ihn zu einer Marionette der Versöhnung. Da rastet der Tourguide aus und schlägt zu.

Deutschen nichtjüdischen Leser*innen erschließt der Roman die jüdische Erfahrung der Funktionalisierung der Schoa, zum einen durch die Figur des deutschen Regisseurs, zum anderen aber – mindestens ebenso verstörend – durch das fiktionale Projekt einer israelischen Militäraktion als Gedenkfeier. So greift Sarid die Deutung der Schoa durch die nationalistische Rechte in Israel an, die die Ermordeten für eine Politik instrumentalisiert, die sich nicht für das Leid und den Verlust und auch nicht für die Erkenntnisse über die Verbrecher und ihre Motivation interessiert. Es wäre ein Missverständnis, das Buch als Kritik an der Arbeit von Gedenkstätten in Europa – und auch in Israel – als Orten der historisch-politischen Bildung zu lesen. Sarids Briefschreiber scheitert vielmehr mit seinem Bemühen, durch das unermüdliche Studium der Fakten des Vernichtungsprozesses die Schoa zu verstehen. Und er verzweifelt an der Aneignung der Trauer um die Toten durch eigennützige Interessen von allen Seiten.

Gottfried Kößler, Frankfurt